Unfairer 'Fair Use'? – Eine kritische Auseinandersetzung nach dem KI-Urteil

Zwischen Kerzenschein und Serverlicht: Diese symbolische Darstellung zeigt den fundamentalen Bruch zwischen klassischer Autorenschaft und KI-generierter Textproduktion. Links ein Gelehrter unter den Säulen von Locke und Hegel, rechts ein gesichtsloses KI-Wesen vor den Logos globaler Tech-Konzerne – getrennt durch eine leuchtende Kluft aus Lava , die für die Zerstörung des geistigen Eigentums steht. ©digibooverlag.com

Ein Urteil als Symptom einer tektonischen Verschiebung

Die technologischen Potentiale der Künstlichen Intelligenz sind unbestritten. Doch wer die gegenwärtige Debatte auf eine pauschale Technologiekritik reduziert, verkennt ihr eigentliches Spannungsfeld: Es geht nicht allein um die Funktionalität digitaler Textproduktion, sondern um die Widerstandskraft eines historisch gewachsenen Kulturverständnisses gegenüber seiner vollständigen Ökonomisierung.

Ein kalifornisches Gericht hat kürzlich im Streit zwischen Schriftstellern und dem KI-Unternehmen Anthropic ein Urteil gefällt. Diese Entscheidung ist weniger juristisch bedeutsam als symptomatisch. Sie markiert ein tektonisches Beben in den Grundlagen unserer Vorstellungen von geistigem Eigentum, Autorschaft und Werk.

Die ideengeschichtliche Basis: Locke, Hegel, Benjamin

Wer diese Verschiebung begreifen will, muss über den juristischen Rahmen hinausblicken und sich den ideengeschichtlichen Voraussetzungen des Eigentumsbegriffs zuwenden. Warum überhaupt wird ein Text als Eigentum verstanden? Diese Frage wurde nicht von Silicon Valley, sondern von Philosophen wie John Locke, G.W.F. Hegel und – im 20. Jahrhundert – Walter Benjamin beantwortet. Ihre Konzepte geraten durch KI unter strukturellen Druck.

Locke: Aneignung durch Arbeit

Locke begründet geistiges Eigentum über Arbeit. Sprache und Ideen seien ursprünglich Gemeingut, durch geistige Anstrengung aber eigne sich der Autor einen Ausschnitt daraus an. Recherche, Formulierung, Stil – all das sei eine Form von Arbeit, die den Rohstoff des Allgemeinen in das Eigentum des Individuellen überführe. Eigentum entsteht, so Locke, dort, wo Arbeit auf das Allgemeine trifft. Der Text gehört dem Autor, weil er ihn durch seine geistige Tätigkeit hervorgebracht hat.

Hegel: Manifestation des freien Willens

Hegel denkt radikaler. Für ihn ist Eigentum die erste Verwirklichung des freien Willens in der Welt. In einem Werk – etwa einem Text – vergegenständlicht sich der Geist. Der Text ist Ausdruck der Persönlichkeit, nicht nur Produkt. Er gehört dem Autor, weil er dessen innere Freiheit in äußerer Form manifestiert.

Benjamin: Der Verlust der Aura

Walter Benjamin schließlich, der in seinen Pariser Schriften (hg. von Alexandre Métraux, Digiboo Verlag, 2024) das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit analysierte, liefert das ästhetische Gegenstück zu Locke und Hegel. Ihm zufolge besitzt das Original eine „Aura“, die durch seine Einmaligkeit, seine Geschichtlichkeit, seine Präsenz im Raum geprägt ist. Reproduktion zerstöre diese Aura – sie löse das Werk aus seiner Herkunft, seinem Kontext, seinem „Hier und Jetzt“. In der Ära der KI geschieht dies nicht nur durch mechanische Vervielfältigung, sondern durch statistische Modellierung, die das Werk gar nicht mehr abbildet, sondern auflöst.

Von der Theorie zur Praxis der Enteignung

Diese drei Traditionslinien – Arbeit, Persönlichkeit, Aura – geraten durch die aktuelle Entwicklung unter massiven Druck. Die Künstliche Intelligenz, in ihrer Allianz mit einem entgrenzten Plattformkapitalismus, transformiert das schöpferische Subjekt in eine Lieferquelle unentlohnter Trainingsdaten. Sie macht aus dem geistigen Eigentum einen Rohstoff zur Profitgenerierung. Die Leistung des Einzelnen wird nicht mehr anerkannt, sondern aggregiert, verarbeitet, monetarisiert – ohne Rückverweis auf Ursprung oder Autorenschaft.

Was Locke als gerechte Aneignung begriff, wird in der Logik der KI zur unbezahlten Vorleistung. Was Hegel als Ausdruck des freien Willens deutete, erscheint als Simulation eines Gesprächs, in dem niemand spricht. Und was Benjamin als Aura bezeichnete, verflüchtigt sich in einem datenbasierten Textgewebe, das keinen Ort, keine Zeit, keine Geschichte mehr kennt.

Die Übersetzung als Prüfstein des Verlusts

Besonders deutlich zeigt sich diese Problematik im Bereich der Übersetzung. Ettore Mjölsnes weist in seiner Analyse Der stumme Text (Digiboo Verlag, 2023) nach, dass maschinelle Übersetzung zwar korrekt, aber bedeutungslos sein kann. Ohne einen menschlichen Entstehungshintergrund verkommt selbst die fehlerfreie Zeichenfolge zur leeren Hülle – sie ist nicht Ausdruck, sondern Simulation von Sinn. Der Text spricht nicht, er spricht nach. Die Sprache wird zur Hülle, in der kein Subjekt mehr zu finden ist.

Die KI als Agentin der De-Auratisierung

Die KI reproduziert nicht nur – sie atomisiert. Sie dekonstruiert Werke in Wahrscheinlichkeiten und rekombiniert sie in geschichtslose Floskeln. Dabei vollzieht sich die radikalste Form dessen, was Benjamin als De-Auratisierung beschrieb: der völlige Verlust jeder originären Gegenwart. Was bleibt, ist eine glattlaufende Oberfläche ohne Tiefe. Diese gewollte Aura-Losigkeit ist nicht Nebeneffekt, sondern Voraussetzung für die Transformation geistiger Leistungen in Finanzkapital.

Der leise Verlust von Autorschaft und Kultur

Wir erleben gegenwärtig eine der grössten, leisesten Enteignungen geistiger Autorschaft der Moderne. Und sie geschieht nicht durch Gesetzesänderung oder Zensur, sondern durch Berechnung. Die Maschine kennt kein Ich, sie kennt nur Muster. Der Autor verschwindet im Aggregat. Seine Stimme wird überlagert von Wahrscheinlichkeiten, sein Stil vom Konsens.

Diese Entwicklung betrifft nicht nur Verlage und Autorinnen, sondern das kulturelle Selbstverständnis der Gegenwart. Denn mit dem Begriff des geistigen Eigentums steht letztlich auch die Idee individueller Verantwortung, schöpferischer Freiheit und historischer Verankerung auf dem Spiel. Wer die Autorschaft aus dem Text entfernt, entfernt auch die Spur des Denkens.

Fazit: Zwischen Theorie und Realität

Die Krise des Eigentums ist damit nicht nur eine Frage des Urheberrechts, sondern eine Herausforderung für die Idee von Kultur selbst. Locke, Hegel und Benjamin lieferten die Denkfiguren, die das geistige Eigentum begründeten – die KI beginnt, sie systematisch zu unterlaufen. Wer den Text nur noch als funktionale Oberfläche behandelt, verliert das Verständnis für seine Tiefe, seine Herkunft und seine Autorin oder seinen Autor.

Literatur:

– Ettore Mjölsnes: Der stumme Text. Eine Kritik der maschinellen Übersetzung. Küsnacht: Digiboo Verlag 2023, ISBN 978-3-03906-030-6
– Otto Karl Werckmeister: Walter Benjamins Pariser Schriften, Herausgegeben aus dem Nachlass von Wolfgang F. Kersten
Erscheint im Herbst 2025: Digiboo Verlag 2025

Die in diesem Beitrag aufgeworfenen Fragen nach dem fehlenden Verstehen und der Herkunftslosigkeit maschineller Texte finden ein starkes Echo in der Arbeit des Übersetzers Ettore Mjölsnes. Seine Kritik an der maschinellen Übersetzung aus der Praxis eines professionellen Übersetzers heraus ist eine direkte thematische Fortsetzung der hier angestellten Überlegungen.

Mjölsnes argumentiert, dass die eigentliche kulturelle, kognitive und sprachliche Leistung des Übersetzens in den Vorgängen liegt, die dem Endprodukt vorausgehen – ein "Hinterland", wie er es nennt, das den Text mit Sinn auflädt. Fehlt dieser Entstehungshintergrund, wie es bei der Maschine der Fall ist, bleibt selbst eine fehlerfreie Zeichenfolge eine leere Hülle, die auf nichts ausser auf sich selbst verweist. Die Maschine, so seine zentrale These, produziert einen letztlich stummen Text.

Für alle, die tiefer in die spezifische Problematik der Sprache und der maschinellen Übersetzung eintauchen möchten, sei diese Publikation dringend empfohlen.

Ettore Mjölsnes

Der stumme Text. Eine Kritik der maschinellen Übersetzung

Paperback, 76 Seiten

ISBN: 978-3-03906-030-6

Erhältlich ab Herbst 2025.
Vorbestellungen sind über den Verlag sowie über jede gut sortierte Buchhandlung möglich.

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